VON: WOLFGANG BECKER 23. MÄRZ 2022

Wirtschaftsverein für den Hamburger Süden befragt Mitglieder zum Fachkräftemangel

Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig – das spiegelt auch das Ergebnis einer Umfrage wider, die der Wirtschaftsverein für den Hamburger Süden exklusiv für Business & People unter seinen Mitgliedern durchgeführt hat. Die Vorsitzende, Franziska Wedemann, und ihr Stellvertreter, Arnold G. Mergell, kommentierten die anonymisierten Antworten und Daten im B&P-Gespräch. Fast 60 Unternehmer beantworteten die fünf Fragen, was aus Sicht der Vereinsführung als starker Rücklauf zu bewerten ist und zeigt, wie sehr das Thema im Windschatten der Pandemie an Fahrt gewonnen hat.

Franziska Wedemann: „Wenn sich ein Viertel unserer Mitglieder äußert, dann zeigt das eindeutig: Dieses Thema ist akut.“ Und die Ergebnisse sind repräsentativ für den Verein, da ist sich der Vorstand einig. Die wichtigsten Punkte in Kürze: Zwei Drittel der teilnehmenden Betriebe (mehr als die Hälfte aus dem Bereich Dienstleistungen und IT) gaben an, offene Stellen nicht mehr mit qualifiziertem Personal besetzen zu können. Interessant ist auch, in welchen Positionen Nachbesetzungen schwierig sind: Die Verteilung auf die Bereiche IT, Gewerblich, Kaufmännisch, Technisch und Auszubildende ist dabei fast ausgeglichen. Am häufigsten aber wird die Nachbesetzung von Führungskräften als problematisch angesehen. Der Frage nach dem Warum möchte der Wirtschaftsverein noch auf den Grund gehen. So viel zu den harten Fakten.

Unter anderem im Fokus: Frauen und die Altersklasse Ü65 

Spannend ist vor diesem Hintergrund die Frage, wie der Fachkräftemangel aus Sicht der Wirtschaft behoben werden könnte. Dazu benennen Franziska Wedemann und Arnold Mergell drei Themenfelder, von denen zumindest zwei auch in der Umfrage abgebildet werden:

o Eine aktive Einwanderungspolitik im Kontext einer auf Berufstätigkeit angelegten Strategie ist dringend erforderlich. (Umfrage)

o Die Abschaffung von gesetzlichen Hürden für Unternehmen, die die Weiterbeschäftigung erfahrener Mitarbeiter auch nach Eintritt ins Rentenalter ermöglichen wollen.

o Das Ende der Durchlässigkeit im Bildungssystem – zumindest so, wie es heute praktiziert wird, indem das Minimalniveau  zum Standard erklärt werde. Sobald sich Lehrer vor den Anwälten der Eltern fürchten müssten, wenn sie schlechte Noten erteilen, gerate das System in Schieflage. (Umfrage) 

Als vierten Punkt nimmt Mergell, Geschäftsführer bei Hobum Oleochemicals in Harburg, zusätzlich die Wirtschaft in die Pflicht, die dafür sorgen müsse, dass jungen Eltern nach der Elternzeit ein erfolgreicher Wiedereinstieg in den Beruf ermöglicht werde. Hier seien flexible und familienfreundliche Angebote unverzichtbar: „Da sind in erster Linie wir Unternehmer gefordert.“ Er plädiert auch dafür, es Unternehmen leichter zu machen, die Altersklasse Ü65 weiter zu beschäftigen. „Wer bis 70 arbeiten will, soll das doch dürfen – die aktuellen Regeln für die Unternehmen stammen aber aus der Zeit, als politisch verhindert werden sollte, dass die Alten den Jungen die Arbeitsplätze wegnehmen. Doch jetzt hat sich die Situation völlig verändert.“

Wenn das „Bemühen“ zu wohlwollenden Noten führt 

Das Thema Bildung steht auf der Agenda des Wirtschaftsvereins ganz obenan. Die Mitgliedsunternehmen sollten sich zum deutschen Bildungssystem äußern. Knapp die Hälfte der Befragten sieht zwar keinen unmittelbaren Handlungsbedarf, aber die Kommentare der anderen sprechen eine deutliche Sprache. Franziska Wedemann sagt: „Das Bildungssystem ist derzeit auf ‚Durchlässigkeit‘ angelegt, so führt schon das ‚Bemühen‘ zu wohlwollenden Noten – auch wenn das Ergebnis mangelhaft ist. Diese Erwartungshaltung finden wir dann teilweise bei den Azubis wieder. Insbesondere im Handwerk müssen Mitarbeiter, die für das Personalthema zuständig sind, inzwischen umfangreiche psychologische und pädagogische Arbeit bei den jungen Erwachsenen leisten, um die Selbstbilder und Erwartungshaltungen mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen.“ Hier werde die Erziehungsarbeit der Familien und der Schulen auf die Betriebe verlagert.

Der Frust schlägt sich in vielen Kommentaren nieder. Da werden dem Schul- und dem Hochschulsystem „Strukturen und Pläne wie vor 100 Jahren“ attestiert. Ein anderer Kommentator schreibt, es mangele am Verständnis für das Leistungsprinzip. Und: In Folge der PISA-Studien sei das Niveau an den Gymnasien sukzessive abgesenkt worden, um möglichst vielen Absolventen ein Studium zu ermöglich – die fehlten nun in den nichtakademischen Berufen. Es müssten zudem zusätzliche Angebote für schwächere Schüler sowie Schüler mit Migrationshintergrund und Sprachdefiziten geschaffen werden – als gezielte Vorbereitung auf Ausbildungsberufe. Letztere in Standardklassen „mitzuschleppen“, führe nur zu Frustration auf allen Seiten. Punkte, der ebenfalls genannt wurden: die mangelnde Wertschätzung für Ausbildungsberufe und der Imageverlust speziell im Handwerk. Zitat: „Es kann nicht sein, dass sich Auszubildende im Handwerk quasi dafür entschuldigen müssen, dass sie es nicht zu einem vernünftigen Beruf mit höherem Ansehen geschafft haben.“ Es wäre darüber hinaus ratsam, in technischen Studiengängen den Führungskräften von morgen grundsätzliche Managementqualitäten zu vermitteln, die über Work-Life-Balance, Teilzeit und Selbstverwirklichung hinausgingen. 

Zwischen Work-Life-Balance und Bildungsnotstand – Business & People – Das Wirtschaftsmagazin aus den Metropolregionen Hamburg, Bremen und Bremerhaven (business-people-magazin.de)